
Impulse aus dem
Baumhaus

Streik und Weisheit
Es gibt ihn noch, den Lokführer mit Emotion. Zumindest auf der Düsseldorfer S11. Vom Flughafen in die Stadt hinein schimpft der Gute ohne Punkt und Komma in Dauerdurchsage über die
„verrottete Möhre, die sie mir da wieder aus dem Keller gerollt haben“.
Braucht man jetzt nicht immer, hat aber einen gewissen Unterhaltungswert. Und das alles Entscheidende ist die eigene Dankbarkeit: Wenigstens fährt der Zug.
Ist ja zurzeit eher nicht der Fall. Merci beaucoup, GDL: Ein Land, in dem nicht gearbeitet, sondern gebremst wird, nervt.
Ich habe meine Tickets trotzdem nicht storniert und bin gespannt auf ein Abenteuer quer durch dieses Deutschland.
Anders als Simca muss ich glücklicherweise nicht pendeln, aber ich darf arbeiten (gerne mehr als 35 Stunden). Ich sollte jedoch, damit das halbwegs funktioniert, immer wieder mal unfallfrei von A nach B nach C kommen.
Ich mache das ganz gern mit der Bahn.
Denn die Bahn hat mich zu einem besseren Menschen gemacht. Darf man das überhaupt so über sich sagen?
Ich erinnere mich an Zeiten, als ich mich unglaublich erfolgreich durchgetaktet hatte, damit nur ja kein Augenblick Leerlauf bleibt. In meinem System war jede Minute Verspätung eine Betriebsstörung, und jeder verpasste Anschluss war eine Katastrophe.
Bis mir bei einer dieser Katastrophen mal ein Engel per Whatsapp zuflüsterte:
„Nimm’s als geschenkte Zeit.“
Es war ein sonniger Tag auf der Stuttgarter Großbaustelle, es hat mich einige Überwindung gekostet, aber ich konnte tatsächlich ein paar Seiten lesen. Und das mit Genuss! Buchgeschenke von Florian Städtler und Stephan Grabmeier hatte ich schonmal nicht vergeblich mit mir herumgetragen.
Es ist das Einfachste auf der Welt, sich über Verspätung und umgekehrte Wagenreihung lustig zu machen. Und das Langweiligste.
Als ich endlich meinen Pawlowschen Reflex besiegt hatte, bei einschlägigen Durchsagen dramatisch die Augen zu rollen und theatralisch aufzustöhnen, ist etwas Unerwartetes passiert.
Ich komme seitdem viel leichter ins Gespräch. Mit Menschen quer über den Gang, es sind fast immer ausnehmend freundliche und inspirierte Unterhaltungen: geschenkte Zufallsbegegnungen. Oft genug gelingt es sogar, Menschen, die fürchterlich im Stress und unter Strom stehen, zu beruhigen. Sie rauszuholen aus der Panik des Zuspätkommens und dem Ärger – ja worüber eigentlich? Dass wir falsch geplant haben und zu wenig Dschungelbuch gehört: „Probiers mal mit Gemütlichkeit.“
Der Stoiker in mir ist endlich da, wo er hingehört: im Hier und Jetzt. Und nicht schon im nächsten Termin.
Neulich entspann sich ein vergnügter Dialog mit einem Zugchef, dem ich mitteilen musste, wie sehr ich seine Geduld mit einem bestimmten Fahrgast bewunderte. „Ich frag mich manchmal auch, wo ich die hernehme“, meinte er nur achselzuckend und blieb grundfröhlich, bis der Eurocity ohne Verspätung in Lindau ankam, dann aber absurder Weise beim Übertritt ins gelobte Bahnland Schweiz technisch zusammenbrach.
Und dann war da noch die Sache mit dem Lokführer.
Spät abends wartete ich mit dem Neunjährigen am Hauptbahnhof auf den ICE. Wir waren die einzigen weit und breit, nur ein anderer Mann stieg noch zu, und als der die Tür zum Führerstand aufschloss, muss er wohl den sehnsuchtsvollen Blick des Buben gesehen haben. Und aus diesem Moment heraus fragte er in kernigem Tirolerisch:
„Magst du mal nach vorne kommen?“
Er nahm uns dann bis Rosenheim mit. Erlebnistechnisch waren die Ferien damit abgehakt. Und der Lokführer hatte mehr für die Bahn getan als alle Image-Kampagnen zusammen.
Das lass ich mir jetzt nichtmal von der GDL kaputtmachen.


Clemens M Prokop
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TYE entwickelt Unternehmenskultur und schafft Veränderungserfahrungen. Wir begleiten Change-Prozesse in Unternehmen und Organisationen, die es ernst meinen.
