
Impulse aus dem
Baumhaus

Leonhard Scheuch
So sehr ich es mir auch vornehme, die wichtigen Momente in meinem Leben wenigstens mit einem Schnappschuss aus dem Handgelenk zu dokumentieren, passiert es mir doch viel zu häufig, dass ich im Eifer des Augenblicks genau darauf vergesse. Mir fehlt einfach der Selfie-Reflex.
Umso wertvoller ist für mich ein Bild, das ich wie einen Schatz hüte. Es entstand am Abend des 7. Mai 2022, und der Mantel verrät, dass es schon ein wenig frisch war. Der Schriftzug Conti auf dem Fenster identifiziert den Ort: „Hinter dem Opernhaus wird in gehobenem Ambiente Grandezza zelebriert“, beschreibt es der Gault Millau, aber die Schweizer Form der Grandezza ist und bleibt eben doch eine bürgerliche Gediegenheit, die sich die Freiheit nimmt, nicht aufs Geld achten zu müssen.
Insofern passt das Conti perfekt ins Ensemble aus NZZ, Paradeplatz und Opernhaus, in dem der Intendant Andreas Homoki dem Zürcher Publikum einen Traum von Weltstadttheater erfüllt.
Meine erste Begegnung mit dem Conti war eine Begegnung mit Cecilia Bartoli, und mehr noch als an unser Gespräch erinnere ich mich an die vergnügte Wonne, mit der sie ihr Zitronenrisotto gabelte. Das ist nun schon viele, viele Jahre her, ich war damals ein blutjunger Kritiker, nicht unbegabt, dem die Süddeutsche Zeitung Türen öffnete. Ich war neugierig auf alles, ich war nimmersatt und wollte entdecken und nachdenken und darüber schreiben, ich hatte keine Furcht vor einer starken Meinung und in meiner wunderbaren Naivität noch keinerlei Ahnung davon, wie hinterhältig Menschen sein können, wenn es ihrem eigenen Vorteil und Fortkommen dient.
Mich amüsiert der Gedanke, auf den ich als junger Mensch nie gekommen wäre, nämlich dass Homokis Dramaturg Claus Spahn damals einer meiner Kollegen war. Auch er schrieb noch für die SZ, ich kannte ihn gar nicht persönlich, bewunderte aber seine klugen und verständigen Texte im Olymp des Feuilletons.
Nie werde ich seine Reaktion vergessen, als ich mich später einmal vorstellte, es muss bei einer Opernpremiere gewesen sein: „Clemens Prokop?“, wiederholte er meinen Namen, als müsse er erst in einem imaginären Zettelkasten kramen. „Ach, Sie sind das.“
Und damit war sein Interesse an mir erschöpft.
Der Weltgeist kennt ja keine Zufälle, und deshalb war es völlig klar, dass ich ein Vierteljahrhundert nach dem Zitronenrisotto mit der Bartoli an genau jenem Ort – die Tische werden sie vielleicht ein bisschen verrückt haben, aber es war auch wieder zwischen jenen beiden Fenstern – Barbara und Leonhard Scheuch zum Abendessen traf. Sie luden ein, natürlich luden sie ein. Jeder in der knausrigen Branche weiß, dass sie die großzügigsten, wunderbarsten Gastgeber sind. Ich habe wenig Menschen kennengelernt, die ähnlich souverän und lustvoll eine wirkliche Grandezza des scharfsinnigen wie spitzzüngigen Tischgesprächs gelebt hätten.
Der Maître d’hôtel war so freundlich, für einen Augenblick seinen Herrschaftsbereich zu verlassen, um vor der Tür ein Erinnerungsfoto aufzunehmen. Barbaras Zigarette glimmt, Markenzeichen genauso wie ihre pechschwarze Frisur, Schwarz ist zumindest kleidungstechnisch Generationen übergreifend konsequenter Stil des Hauses, und deshalb ist auch das Büchlein nur zu ahnen, das Leonhard in der Hand hält.
Ich hatte ihm ein Exemplar der „Kunst der Stunde“ mitgebracht, das Persönlichste, so wollte ich glauben, was ich zu jener Zeit geben konnte. Während Corona hatte ich wieder zu schreiben angefangen, für mich zunächst und ohne Not und Auftrag, und so sind Texte entstanden, die irgendwann ein Lesebüchlein wurden. Es war mir nicht wichtig, einen Verlag dafür zu finden, aber ich wollte diese Aufsätze, Gedankenspiele und Bekenntnisse mit Menschen teilen, die mir wichtig sind. Denn sie markieren meinen Weg zu mir selbst, mit ihnen beginnt eine selbst verordnete Lernreise maximal ehrlicher Selbstreflexion, die Auseinandersetzung mit meinen verschlungenen Lebenspfaden und noch etwas: Mit ihnen begann die aufregende Reise, meinen ganz unterschiedlichen, zwischen Anlässen und Genres verstreuten Arbeiten einen Wert zu geben – sie also selbst wert zu schätzen, unabhängig von einer Bewertung durch andere.
Es wurde ein neuer Blick auf tastende Experimente, naive Unternehmungen, verlustreiche Kämpfe, und die scheinbaren Niederlagen und Misserfolge entpuppten sich im Nachhinein nicht selten als existenziell wichtige Erfahrungen meiner Persönlichkeitsentwicklung. Damit verbunden wurde die ganz grundsätzliche Frage für mich wichtig, wem ich denn die Macht erlaube, über Qualitäten zu urteilen und damit über mich selbst. Wer sich exponiert, macht sich angreifbar, und wer dabei noch zwanghaft sein Innerstes nach aussen kehrt, wer sich immer mit allem so quält, muss auf grausame Art verletzlich werden.
Leonhard Scheuch lernte ich vor vielen Jahren in Eisenstadt kennen. Für die Zeitung verbrachte ich ein Wochenende auf Schloss Esterházy, das so eng mit dem Namen Joseph Haydn verbunden ist. Es klingt wie ein Marathon, tatsächlich wurde es eine der bewegendsten musikalischen Erfahrungen, die ich je machen durfte. Alle 68 Streichquartette von Haydn an einem Wochenende, es wurde ein Rausch bis tief in die Nacht hinein, und die lebhafte Erinnerung an junge Ensembles, die bei Kerzenschein in der Kapelle den Tag beschlossen, beweist mir bis heute, dass es nicht immer die pure Meisterschaft der arrivierten Big Names braucht, dafür aber die richtige Konstellation, verbunden mit einer unverstellten Leidenschaft, die zu Momenten führt, die man ein Leben lang mit sich herumträgt, tragen darf, und von denen man möglicherweise erst Jahre später merkt, welch wertvoll prägende Erfahrung sie tatsächlich waren.
Die gewiss prägendste Erfahrung von allen aber war die Begegnung mit Leonhard Scheuch. Auf dem kurzen Fußweg zwischen Hotel und Schloss kamen wir ins Gespräch. Er war mir aufgefallen, weil er aus der Menge der Besucher auf eigentümliche Weise herausstach. Es fällt mir selbst heute schwer, das zu beschreiben: Er war einfach anders. Er passte weder zum klassischen Quartett-Publikum, so wie ich es aus dem Münchner Herkulessaal kannte, noch zum exaltierten Kreis der Branchen-Profis: fortwährend in wortstarke Diskussionen verwickelt, nicht um besser zu verstehen, sondern im Rausch der eigenen Stimme.
Ich war ein fürchterlich schüchterner Einzelgänger und eingeschüchtert obendrein von all den Menschen, die scheinbar immer alles so genau wissen, während ich mich in vielem so unsicher fühlte, und die längst eine klare Meinung haben, während ich noch mit mir hadere. Vielleicht schärft das die Wahrnehmung für besondere Menschen. Da war dieser immer wache, konzentrierte, freundlich-offene Blick. Und, auch daran erinnere ich mich bei unseren ersten Wortwechseln, eine unmittelbare Neugier, ein Nachfragen, ein Verstehenwollen.
Natürlich kannte ich Bärenreiter. Wie jeden, der mit Musik aufwächst, begleiteten auch mich die Noten mit dem Bären-Logo durchs Leben, sie stehen im Schrank und liegen auf dem Klavier, aber ich muss gestehen: Leonhards unbeschreibliche Verdienste gerade um zeitgenössische Musik, seine Leidenschaft für Neues, seine fürsorgliche Ausdauer mit Komponisten und sein Verhandlungsgeschick mit Intendanten, seine Liebe zu Janáček und überhaupt diese innige Verbindung nach Prag, von alldem wusste ich damals nichts, das durfte ich erst allmählich erfahren und immer in allergrösster Bescheidenheit, souveräner Zurückhaltung und, will es mir scheinen, mit einer Menschenfreundlichkeit, die nicht häufig zu finden ist.
Aus einer Einladung nach Kassel (wo der Bärenreiter-Verlag in der Heinrich-Schütz-Allee seine Heimat hat) entstanden erste Buchprojekte, ein Essay zunächst für einen Bildband („Gräber berühmter Komponisten“), ich wurde ein halber Ghostwriter, um die Geschichte der Leipziger Krumbiegel-Familie zwischen Bach und Prinzen zu erzählen („Jauchzet, flohlocket: Du musst kein Schwein sein“), 2006 schließlich eine musikalische Mozart-Lebensgeschichte zum Jubiläum („Mozart, der Spieler“).
Aus Gründen, über die ich nur mutmaßen kann, musste Joachim Kaiser dieses Mozart-Buch in der Süddeutschen rezensieren. Um die Jahrtausendwende war ich der Zeitung davongelaufen, davor hatte ich Kaiser als Legende seiner selbst ja noch regelmäßig erlebt. Es war ein Schauspiel für Privilegierte, wenn man aus dem Paternoster in der Sendlinger Straße trat und er gerade einen seiner Aufsätze diktierte oder in anderer Mission durchs Feuilleton wanderte.
Er hat, das wurde mir erst viel später klar, kein einziges Mal interveniert oder auch nur kommentiert, wenn einer seiner Künstlerfreunde Opfer einer vielleicht weniger freundlichen Kritik wurde. Ich erinnere mich an wichtigere Anliegen. Als Charly Forster für irgendeinen kleinen Gefallen eine Flasche Champagner versprach, gab Kaiser ohne jede Ironie das Preisschild durch: „Es darf auch eine Kiste sein.“
Wunder über Wunder: Natürlich konnte Joachim Kaiser mit meinem Buch nichts anfangen, aber was er dann konkret monierte, hatte er schlicht falsch gelesen. Ich war ein wenig enttäuscht, dass er sich nicht mehr Mühe gegeben hatte mit mir.
So gerne ich an dieser Stelle Heldengeschichten erzählen würde: Beim Blick auf die gesammelten Honorarabrechnungen muss ich fürchten, dass der Verlag mit mir nie rechtes Geld verdient hat, noch nicht einmal mit einem Libretto, das ich auf Leonhards Vermittlung später für eine Musiktheaterproduktion ausgerechnet in Schloss Esterházy schrieb (die Veranstalter prellten mit der Wiederaufführung die vertraglich vereinbarten Tantiemen). Er hat mich aber mit der Lektorin Jutta Schmoll-Barthel zusammengebracht, die mit einer ihr eigenen Mischung aus Enthusiasmus, Engelsgeduld und energischer Bestimmtheit meine Schreibblockaden ertrug und mich später noch zu einem Band über „Don Giovanni“ überredete, eine Arbeit, die mir nicht viel (ein)brachte, auf die ich aber tatsächlich immer noch stolz bin.
Ich beschreibe das hier so ausführlich, weil diese Verbindung zu Barbara und Leonhard Scheuch eine tatsächlich ganz wesentliche Brüchigkeit in meiner Biografie überspannt. Beim Blick zurück auf eine lange Reise zu mir selbst könnte mir schwindelig werden, deshalb spare ich ihn für heute (ich habe ihn anderswo bereits gewagt). Etwas beschämt sehe ich auf scheinbare Irrwege, Fehler, Dummheiten und versöhne mich mit ihnen – mit alldem, was sich im Leben mitunter unrühmlich aneinanderreiht, damit man irgendwann der wird, der man werden kann.
Ganz ohne Bitternis gesagt: Ohne Narben geht es nicht.
Es macht mich sehr glücklich, dass beide Scheuchs nie das Interesse verloren hatten. Begegnungen gab es in den Jahren immer wieder – bei Rösti oder Vermicelles oder einer rustikalen Bratwurst am Chinagarten (von den denkwürdigen Einladungen ins eigene Domizil, das Kassler Taxifahrer mitunter und nicht ohne Grund fürs Schweizer Konsulat halten, ganz zu schweigen). Bei ihren Besuchen in Zürich oder Basel war immer wieder auch Zeit für mich, und diese Ehre bedeutet mir mehr, als ich beschreiben kann.
Eine bis heute prägende Einladung in den Schweizerhof muss ich unbedingt erwähnen. Bei dieser Gelegenheit durfte ich Lorenzo Ferrero kennenlernen. Barbara brachte uns zusammen, um ihre Idee eines Callas-Musicals zu diskutieren. Wenig später fand ich mich mit Lorenzo tatsächlich in Ravello wieder, hoch über der Amalfiküste brüteten wir ein Szenario aus. Lorenzo war in Ravello als künstlerischer Leiter der Sommerkonzerte, und dass es 2006 gewesen sein muss, weiß ich nur wegen des denkwürdigen Finalspiels zwischen Italien und Frankreich, für dessen Liveübertragung die Konzerte einen Abend pausieren mussten.
Lorenzo nahm es hin, verstand es aber ganz und gar nicht. Als wir abends zum Open Air-Platz spazierten, tobte gerade das Elfmeter-Drama des Jahrhunderts. „Wer spielt hier eigentlich?“, fragte Lorenzo in größter Unschuld. Ungläubiges Entsetzen um uns herum. Und wir durften froh sein, dass man uns nicht über die Klippen gejagt hat.
Auch Lorenzo verdanke ich vieles, ich habe eine Menge von ihm gelernt, nicht nur als ich mit dem Quartetto di Cremona seine Musik an einem Zauberort produzierte, sondern unbedingt auch an Herd und Tisch und in seinem verwunschenen Garten in Turin.
Szenenwechsel: Ortstermin mit Scheuchs in der Komischen Oper Berlin. Der damalige Intendant signalisiert großes Interesse, das Projekt zu beauftragen. Den Name Lorenzo Ferrero lobt er in den höchsten Tönen. Wenig später wurde öffentlich, dass Andreas Homoki nach Zürich gehen würde. „Das ist doch nicht schlimm“, kommentierte eine Verlagsmitarbeiterin ihre Motivation, die Callas eben anderswo ins Leben zu rufen, „jeder Topf findet seinen Deckel“.
In diesem Fall hat sie sich getäuscht, und Callas ist tatsächlich bis heute Unfinished Business.
Wahrscheinlich fiel ihr Name auch am 7. Mai im Conti. Mir wurde zunehmend bewusst, was ich alles an unseren Konzertproduktionen lernen durfte, welche Erfahrungen sich da angesammelt hatten – weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit und, schlimmer noch, weitgehend unbemerkt von uns selbst. Erst das mühsame Unterfangen, zu jedem Projekt auch ein Buch zu produzieren, das den künstlerischen und technischen Prozess einfängt und rekapituliert, hat mich dorthin gebracht. Heute sind es ein Dutzend dieser Bücher, die in Bildern und Texten einen langen Weg dokumentieren, und ich frage mich ernsthaft, wie ich ein Projekt wie Callas heute angehen würde.
Etwas anderes an diesem 7. Mai in Zürich werde ich allerdings niemals vergessen. Es war dies ein plötzlicher Schwenk unseres Gesprächs. Der Hauptgang war mindestens fortgeschritten und die Konversation, hatte ich den Eindruck, war lebhaft gewesen.
Instinktiv hatte ich auf den Moment gewartet.
„Wir haben nie über Kassel gesprochen“, sagte Barbara ohne Überleitung und ließ ihre Feststellung in eine bedeutungsschwere Pause fallen.
Mir war sofort klar, was sie meinte.
In den vorangegangenen Jahren hatte uns Olaf Schmitt zu „seinen“ Kasseler Musiktagen eingeladen. Als künstlerischer Leiter erschien er mir immer wie ein umsichtiger Treuhänder und kluger Asset Manager. Olaf und ich kennen uns schon eine Ewigkeit, ich mag ihn sehr; ich mag auch die seltenen Gelegenheiten, wenn wir gemeinsam ins Konzert gehen: Er ist immer so vornehm zurückhaltend in seinem Urteil, aber nach einer Phase des vorsichtigen Sondierens stellen wir dann meistens fest, dass wir, so unterschiedlich wir sind, recht ähnlich empfinden, die Glücksmomente genauso wie die Niederungen.
Liegt’s am Ende daran, dass ich in meiner Arbeit immer weniger Kritiker und immer mehr zu meinem eigenen Dramaturgen geworden bin? Es war nicht zuletzt auch die Arbeit mit den Nachwuchskritikern an der Theaterakademie August Everding, die mir bewusst gemacht haben, wie elementar wichtig es ist, überhaupt erst wahrzunehmen, Fragen zu stellen, darzustellen und einzuordnen. Eine gelungene Kritik ist keine Frage des persönlichen Geschmacks, sondern einer Urteilsfähigkeit.
Das verbindet sie übrigens mit gelungenem Design. Alles muss einen Grund haben: Seine Kraft entsteht aus innerer Strenge, logischer Konsequenz und damit, wenn man so will, einer Daseins-Notwendigkeit.
Auch in allen kreativen Prozessen, mit denen wir uns bei TYE beschäftigen, versuchen wir, sie so weit als nur möglich zu objektivieren, und das bedeutet auch: zu ent-emotionalisieren. Aus dieser gereiften Perspektive blicke ich zurück in die Zeit des Zitrononrisottos. Damals, das waren noch Zeiten, machte Nikolaus Harnoncourt, gerade auch in Zürich, unglaubliche Dinge, und man musste seine unwirsche Radikalität überhaupt nicht mögen – aber man musste dieses Andersdenken und Andersmachen unbedingt bewundern, diese geistige Unabhängigkeit, diesen musikalischen Entdeckungs- und Gestaltungswillen, der sich um klassische Schönheitsbegriffe einen Dreck scherte.
Ich brauchte lange, um diesen Unterschied zu verstehen.
Im ersten Jahr Kassel hatte uns Covid voll erwischt. Im Taumel der sich ständig wandelnden „Gefährdungslage“ erfanden wir ein szenisches Spiel für die documenta-Halle. Wir wollten die tausend Vorgaben nicht nur einhalten, sondern diesen Notwendigkeiten einen dramaturgischen Sinn geben – der eine gemeinsame Erfahrung ermöglicht. In der Tristesse der Situation wollten wir eine möglichst poetische Rahmenhandlung erfinden, ein Plädoyer für das gemeinsame Erleben von Musik. Im Tsunami der Streams und Wohnzimmerperformances stellten wir uns die Frage, woher wohl die Sehnsucht kommt, sich mit Menschen, die wir nicht kennen, zu einem Konzert zu verabreden.
„Zum Paradies mögen Engel dich geleiten“, sang ein Chor die Antiphon, während er das Publikum an seine Plätze führte. Die Musik als Himmel auf Erden! Ich fand das damals eine augenzwinkernd schöne Idee. Und natürlich schimmerte bei all diesen Überlegungen meine so prägende Erfahrung in Eisenstadt durch, ohne die ich Leonhard möglicherweise nie kennengelernt hätte.
Als Bühne erfand ich einen mit semitransparent leuchtender Gaze bespannten Würfel, der in einer Zeit der Maskierung genau diese zwiespältigen Erfahrungen aus Nähe und Distanz reflektierte: Wer schützt hier eigentlich wen wovor?
Im Folgejahr dann „Masters of Dark Matter“. Olivier Messiaens Musik fasziniert mich von frühester Kindheit an. Seit ich durch Christian Rutishauser Paul Festas wunderbar absurden Film kenne, der im wesentlichen nur Menschen dabei zeigt, wie sie mit Kopfhörern L’apparition de l’église éternelle hören, war ich besessen davon, dieses wahnwitzige Stück Musikwunder in das Zentrum einer Konzertinszenierung zu stellen. Die imposant verspielte Rieger-Orgel in der Kassler Martinskirche machte das möglich, und mit Olaf konzipierte ich um dieses Messiaensche Gravitationszentrum herum ein Konzert aus Licht.
Was ist ein musikalischer Gedanke? Mich fasziniert nach wie vor diese Frage nach dem Wesen der Musik: die so flüchtig ist, die sich nicht festhalten lässt, die zwingend Zeit braucht, um zu entstehen – obwohl sie gleichzeitig die wunderliche Macht besitzt, unser Zeitempfinden völlig aus dem Takt zu kippen.
Wenn man das bedenkt: Was sind Komponisten dann anderes als Magier einer mystischen Zauberkraft? Musikgedanken sind ihre Zauberformeln. Und was ist dann die Orgel anderes als eine monströse alchemistische Musikmaschine zur Herstellung genau dieser Zauberkräfte: in meiner Vorstellung geheimnisvolle dunkle Materie, unsichtbar aber spürbar, beobachtbar, messbar, so wie Wissenschaftler mit ihren riesigen Teleskopen das Unsichtbare und kaum Begreifbare unseres Weltalls erforschen, kleinste Energieteilchen aufspüren und größte Masseklumpen als dunkle Zeugen kosmischer Katastrophen.
Diese wundersame Maschine zum Leuchten zu bringen, je aktiver sie war, das war das eine. Die ganze Kirche sollte diese Energie reflektieren (Illumination hat mich nie interessiert, das sollen andere machen), und ich fürchte, es ist niemandem im vollbesetzten Zuschauerraum aufgefallen, dass keine Säule je genau wie die andere leuchtete, sondern dass sich alles immer im Fluss befand, als wäre aufgrund der dunklen Materie gar keine klassische Symmetrie möglich.
Orgelmusik begleitet mich durch mein Leben; mir sind so ziemlich alle Rituale und Marotten von Organisten vertraut, sie sind ein eigenes Volk, manche bleiben gefangen in uralten Stereotypen, andere sind auf Speed und beeindruckend eitel, sobald sie sich produzieren können. Die Solistin Ines war so wohltuend anders, fröhlich und bescheiden, neugierig und offen für alles. Ich schickte sie in einer 15 Meter langen Brautschleppe auf die Empore, stolz wie ein Pfau schritt sie zunächst durchs Publikum, und ich staunte ein Dreivierteljahr später nicht schlecht, als sich der SPIEGEL vor Begeisterung kaum mehr einkriegte über eine Performance, deren Namen und Urheber ich vergessen habe, in der aber wohl ein ganz ähnliches Bild zu sehen war.
Ich sah das Foto und wunderte mich noch: Irgendwie kam mir das bekannt vor.
In „Masters of Dark Matter“ spielt dieses Kostüm dramaturgisch noch eine Rolle, aber hier nur soviel: Das Musik-Herstellen an der Maschine sollte nicht ohne Folgen bleiben, man sollte das sehen und verstehen können als einen Akt der Verwandlung. Musizieren nicht als ein Ritual der beliebigen Reproduktion, sondern als ein existenzielles Schaffen, ein Wirken, ein Formen.
Jeder Magier hat seine Zauberlehrlinge. Bei „Masters of Dark Matter“ sind es eher dunkle Lemuren, die aus dem Maschinenraum purzeln. Eine schwarze Traversenbrücke führte von der Empore mit dem Spieltisch hinunter ins Kirchenschiff. Sie war die Verbindung zwischen den Welten des Musik-Denkens oben und des Musik-Hörens unten. Die Gesellen sollten sich zur Musik zwischen diesen Sphären bewegen und Funken schlagen: Als Chefdramaturg der Bregenzer Festspiele hatte Olaf Verbindungen zu erfahren Stunt-Performern, die zusätzliches Licht-Equipment mitbrachten.
„Das wird aber keine Lichtshow?“, klingt mir ein überaus ängstlicher Peter Ruzicka bei einer anderen Gelegenheit, im Hamburger Planetarium, noch im Ohr. Und ich frage mich dann immer, woher manchmal diese Panik kommt bei sonst eigentlich vernünftigen Menschen: Wir sind doch selbst Musiker, und die Musik ist uns heilig. Woher sie das wissen sollen? Kollegialer Respekt wäre mal ein Anfang, auch Neugier hilft in solchen Fällen. Ich habe sie nur selten erlebt. Viel häufiger ist ein seltsames Nichtmiteinandersprechen. Nonverbale Abwehrhaltungen und Lagerbildung. Mühsam. Oft genug beäugen uns Musiker als ihre natürlichen Feinde, weil wir ihre superangenehmen Produktionsabläufe leicht verändern. Und es war ein seltsames Gefühl, als uns in der Düsseldorfer Tonhalle Orchestermusiker ansprachen: „Ihr macht hier wirklich große Kunst.“ Danke für den Zuspruch! Aber natürlich machen wir das, was denn sonst?
„Wir haben nie über Kassel gesprochen“, sagt also Barbara, und Leonhard sagte nichts.
In der nun folgenden Pause tanzten mir einige Gedanken im Kopf. Ich musste an die Szene mit Chris, dem Stuntman, denken. Mit ihm hatte ich tatsächlich meine liebe Not. Er kam übernächtigt aus Qatar nach Kassel, wir hatten eh nur eine kurze Probe, und es brauchte trotz aller Vorgespräche noch einmal deutliche Worte, den Unterschied zwischen arabischem Rumsdibums und unseren künstlerischen Vorstellungen klar zu machen. Und der ist dann doch eine Stilfrage.
Andererseits hatten wir mit Olaf etwas Wahnwitziges auf die Beine gestellt und überhaupt erst möglich gemacht: mit bescheidenem Budget und ehrgeizigen Aufbau- und Probenzeiten eine ganze Konzerterzählung produziert, die wir genau einmal zeigen konnten. Was für ein Aufwand, was für ein Luxus! Zugegeben, man zeigt dann ja immer eine Art öffentliche Generalprobe. Aber sogar das Timing, das die Stuntperformer über Knopf im Ohr bekommen hatten, passte gar nicht mal schlecht – das war unter den Umständen nicht absehbar gewesen. Die l’apparition war ein langer großer Gänsehautmoment. Im Grunde hatte ich den ganzen Aufwand vorher und nachher ja nur unternommen, damit während Messiaens Musik nichts – nein, stimmt nicht: fast nichts – geschieht.
Die Erde steht still und hält den Atem an.
Ich dachte an den Sprecher, mit dem ich ganz und gar unglücklich war. Ich hatte poetische Texte geschrieben, ähnlich wie für „Prometheus dis.order“, die assoziativ durch die Konzerterzählung führen sollten. Wir wissen ja, dass sich viele Menschen schwer tun, soviel Ungewohntes aufzunehmen und einzuordnen. Sie glauben dann, etwas „verstehen“ oder dechiffrieren zu müssen. Und bringen sich damit um das eigentliche Erlebnis. Da helfen Texte als Leitlinien. Aber der Erzähler traf weder Ton noch Timing, und was soll ich sagen? Es ist immer eine Qual, wenn man eine künstlerische Vorstellung, die im Kopf ganz klar und deutlich ist, nicht umsetzen kann.
Ich dachte daran, dass ich Leonhard eines der Dark-Matter-Büchlein geschickt hatte. Ich war so stolz und glücklich, dass es uns gelungen war, eine Erinnerung an diese Momente in Buchform einzufangen. Denn wer das nicht kennt, glaubt nicht, wieviel Aufwand und Arbeit eine solche zusätzliche Produktion ist. Ich dachte daran, dass ich nie eine Zeile als Antwort darauf bekommen hatte, aber erstens kann ich auch im Schweigen lesen und zweitens neige ich, glaube ich jedenfalls, nicht zu krankhaftem Geltungsbedürfnis.
Andererseits gibt es kaum etwas Schöneres als eine Nachricht von Leonhard, sie ist immer etwas Besonderes: „Mein zweitliebster Clemens“, schreibt er seit vielen Jahren, und ich schreibe „Mein zweitliebster Leonhard“, seit unser Sohn – der seinen Namen bekam wegen eines Mannes, den ich vor vielen Jahren in Eisenstadt kennenlernte – mein liebster Leonard ist.
„Es hat uns nicht gefallen“, beendete Barbara die kurze Stille und legte ihren Kopf so schief, dass ich mir für einen Augenblick einbildete, den Schmerz über das damalige Leiden noch einmal in ihrem Gesicht zu erkennen.
Vor nicht allzu langer Zeit hätte es mir in diesem Moment den Boden unter den Füßen weggezogen. Da hätte auch der donnernde Applaus nicht geholfen, an den ich mich gut erinnere: das Misstrauen wäre immer stärker gewesen. Wer seine eigene Begeisterung, sein Können und seine Energie in ein Projekt gibt, wünscht sich doch nichts mehr, als andere Menschen, die sich davon ansprechen, anstecken, mitreißen, vielleicht – ganz vielleicht sogar ein wenig verzaubern lassen.
„Das tut mir leid für euch“ – sowas in der Art habe ich wohl geantwortet. Ich hätte auch sagen können: „Vielleicht habt ihr es einfach nicht verstanden?“ Oder einfach nur: schade. Was mir aber vor allem leid tut, ist die verpasste Chance, in einen Austausch zu gehen.
„Man kann nicht nicht kommunizieren“, diese simple Weisheit hat uns Paul Watzlawick ins Stammbuch geschrieben, und sie ist für mich in den vergangenen Jahren so unbeschreiblich wichtig geworden. Das Ver-Schweigen, auch ein Aneinander-vorbei-Schweigen, das Nichtansprechen und Abtauchen, all das habe ich in Myriaden von Varianten studiert, nicht nur im Kulturbereich, wo man sich manchmal selbst den Skandal nicht gönnt, sondern auch als konstant wiederkehrendes Verhaltensmuster in Unternehmen.
Schweigen als der maximale Mangel an Souveränität.
Das ist auch der Grund, warum wir grundsätzlich und zu jedem Projekt Nachbesprechungen machen. Sie sind von elementarer Wichtigkeit, wenn man besser werden möchte. Aber auch wenn einem persönliche Beziehungen wichtig sind. Eine ehrliche Kritik, ein leidenschaftliches Streitgespräch ist doch tausendmal wertvoller als ein feiges Lob.
Andererseits: Wer hat nicht gerne Fans und Groupies? Jeder hat halt auch seine Lieblinge, denen man vielleicht etwas mehr durchgehen lässt als anderen.
Ich will keine Kunst machen, die allen gefällt. Aber ich will eine Kunst, in der alles seinen Grund, Hand und Fuß hat – dann darf immer noch das menschliche Leben dazwischenkommen mit Produktionszwang, Zeitknappheit, Budgetzwänge und manchmal einfach auch Fehlentscheidungen. Ich möchte liebevolle Kunst mit Ecken und Kanten, die sich nicht sofort ranwirft an Publikumsgeschmack und Acclamation, sondern sich in ihrer eigenen Verletzlichkeit und Menschlichkeit zeigt.
Ich möchte eine Kunst, die relevant ist.
Schade, denke ich mir, dass es ihnen nicht gefallen hat. Ich kann es nicht ändern. Aber muss ich mich deshalb schlecht fühlen?
Ich bin, der ich geworden bin. Ich kenne meinen Wert, so wie ich meine Unzulänglichkeiten kenne. Vor allem weiß ich: Ich bin ein Andersmacher von Geburt an. Ich kann nicht anders, als Dinge eben anders zu machen als man sie gemeinhin so macht (mein Bruder Nick kann sein eigenes Lied davon singen, und Jutta Schmoll-Barthel wird sich vielleicht an meinen Beitrag zu Leonhards Festschrift erinnern). Es gibt wahrlich leichtere Wege durchs Leben. Aber es öffnet immer auch neue Perspektiven.
Und darum geht es.
Am 24. April 1924 wurde der Bärenreiter-Verlag gegründet. Ich habe das Jubiläum nur aus der Ferne und als Unbeteiligter verfolgt. Aber ein Viertel dieser Zeit kenne ich nun Barbara und Leonhard, und das ist Grund genug für mein persönliches Jubiläum.
Zuletzt sah ich die beiden am 7. Mai 2022, es war schon kühl abends hinter der Oper, und wir sprachen über Kassel. Vor der Tür rauchte Barbara, der Maître machte ein Foto von uns. Leonhard überreichte mir, dem Gast, ein überaus wertvolles Gastgeschenk. Es hat einen Ehrenplatz in meinem Büro und erinnert mich seither jeden Tag wieder bärenreiterfeuerrot an jenen Abend.
Heute ist der 21. Mai 2024, es ist Dienstag nach Pfingsten und Leonhards Geburtstag. Es ist hohe Zeit, endlich meine Geschichte aufzuschreiben.


Clemens M Prokop
What's Your Journey?
TYE entwickelt Unternehmenskultur und schafft Veränderungserfahrungen. Wir begleiten Change-Prozesse in Unternehmen und Organisationen, die es ernst meinen.
