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Impulse aus dem
Baum­haus

Clemens M Prokop: Kleine Psychologie der Tanknadel (Essay) – Photocredit: Michael_Luenen/pixabay

Psychologie der Tanknadel

11. Juni 2024
Clemens M Prokop

Dieser Essay ist zuerst in einer IAA-Beilage im forum nachhaltig wirtschaften erschienen.

Es waren, man kann es nicht anders sagen, alle Zutaten für einen perfekten Abend des Missvergnügens. Mein Termin hatte sich hoffnungslos in die Nacht gefressen, vor mir lagen 300 Kilometer Autobahn. Es war kalt, ich war erledigt, und das einzig Spannende war der Wechsel zwischen Nebel und Regen. Gut nur, dass ich diese Strecke auch im Schlaf fahren könnte. Entlang dieser Route kenne ich wirklich jeden Stein beim Vornamen.

Ich will nach Hause und spüre diese akute Unlust, jetzt auch noch zu tanken. Ein prüfender Blick auf die Nadel sagt mir: Das klappt noch gut. Eine Viertelmillion Kilometer lang habe ich die Tankanzeige studiert, ihr unaufhaltsames Niedersinken von Voll nach Leer. Homer erzählt, dass der Korintherkönig Sisyphos als Götterstrafe auf ewig einen Felsbrocken auf einen Berg wälzen musste – nur damit der kurz unter dem Gipfel wieder herunterrollte. Was ist unser Tanken anderes? Die Anzeige setzt alles auf Anfang, alle paar Hundert Kilometer aufs Neue, und in dieser stupide wiederkehrenden Gesetzmäßigkeit scheint mir das so naturgegeben wie Mondphasen und Gezeiten.

Wie immer, wenn man viel Zeit miteinander verbringt, lernt man sich kennen bis in die letzten Falten und Verwerfungen des Charakters. Dieses erste, geradezu stolze Verharren in der Aufgetankt-Position, gefolgt von einem enttäuschend schnellen und plötzlichen Zurückfallen. Erst danach geht es in ein stoisch gleichförmiges, beinahe träges Nachlassen weit über das Mittelmaß hinaus, bis es mit einem Tänzeln zwischen Stop and Go dem Ende entgegen galoppiert.

Wie gesagt: Wir kennen uns. Das Bergland kurz vor dem Ziel wird noch ein bisschen zusätzliche Energie brauchen, und der Gegenwind bläst vielleicht ein bisschen stärker als sonst. Sollte trotzdem reichen.

Auf seltsame Art ist die Tankanzeige so etwas wie eine armselige und überaus langweilige Halbschwester des Fortschrittsbalkens. Dieser gehört in hundert Varianten zu unserem digitalen Leben. In seinem unerschütterlichen Wachsen von links nach rechts verbreitet er Optimismus. Es geht voran!, ist seine Botschaft: Die Vollendung ist nahe! Zu keinem Zeitpunkt hatte der Fortschrittsbalken je den Anspruch, einen tatsächlichen Fortschritt abzubilden. Seine psychologische Aufgabe erfüllt sich in der visuellen Versicherung, dass sich überhaupt etwas tut. Eine Art digitales Lebenszeichen an dauernervöse User, solange die Maschine im Urgrund irgendwelche Systemupdates installiert.

Ein hochspannendes Forschungsfeld für die Mensch-Maschine-Interaktion.

Die Tankanzeige dagegen ist der triste Inbegriff einer überkommenen Verbrauchs-Ökonomie. Hier wird immer bloß verloren, nichts gewonnen. Ihre Botschaft: Das Ende ist nahe! Der Kilometerzähler macht das alles kein bisschen besser, im Gegenteil: ein herzloser Buchhalter verlorener Lebenszeit, verschwendet fest fixiert im Fahrersitz.

Der 1914-er Studebaker gilt als erstes Automobil mit Tankanzeige im Armaturenbrett. Doch als eigentlicher Erfinder der modernen Tanknadel kommt der weithin unbekannte, allerdings genialisch begabte (und später im Medizinsektor erfolgreiche) Tüftler John Gilbert Collison in Betracht. Als 25-Jähriger schuf er eine Vorrichtung, die General Motors in den 1920-er Jahren serienmäßig verbaute. So gesehen hat die Tankanzeige, wie wir sie kennen, unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit ihren 100. Geburtstag gefeiert. Hundert Jahre, in denen sie nicht gerade das Zentrum der Innovationsbestrebungen war. Abgesehen vielleicht von Jim Moylans (insbesondere bei Leihwägen segensreichen) Erfindung des Richtungspfeils, der anzeigt, auf welcher Fahrzeugseite man nach dem Tankdeckel suchen sollte.

Damit bleibt nur eine Frage: Wozu soll ich denn überhaupt wissen, wie voll mein Tank ist? Das interessiert doch nur in einer einzigen Situation, nämlich bei der Rückgabe eines Mietwagens. Für den großen Rest des Lebens leitet mich ein sehr binäres Informationsbedürfnis: Komme ich an? Oder brauche ich den ADAC als Telefonjoker?

Und genau hier sieht’s gerade nicht gut aus. Der Wind rauscht doch stärker durchs Rheintal als gewöhnlich. Zu früh schreckt mich der Warnton für den Reservetank aus meinen Gedanken. Dieser Sound ist irre, auch nach so vielen Tankfüllungen geht er mir noch durch Mark und Bein. Selbst hier werden unterschiedliche Persönlichkeitsprofile sichtbar: Meinem Vater, denke ich, wäre das nie passiert. Keine Ahnung, wie er das macht, aber sein Tank ist immer voll. Wahrscheinlich weiß er gar nicht, dass es den Reservewarnton überhaupt gibt. 

An dieser Stelle offenbart sich die eigentliche psychologische Funktion der Tankanzeige. Sie ist ein Seismograph meiner Mobilität – wie ja überhaupt unser emotionales Verhältnis zum Auto wesentlich von Versprechen und Möglichkeiten geprägt ist. Es ist die süße Behaglichkeits-Logik eines „Ich könnte, wenn ich wollte“. Mit den PS-Reserven unter der Haube könnte ich allen davonziehen, wenn die Lkws nicht wären. Ich könnte mal eben auf nen Cappuccino nach Italien, wenn ich denn je Zeit hätte. Das frühe Dilemma der E-Mobilität lässt sich genau daran festmachen: Während für die allermeisten Fälle eine Tagesreichweite von 60 Kilometern wundervoll ausreicht, beginnt unser Sicherheitsgefühl bei 300 Kilometern aufwärts. Das ist unser mobiler Aktionsradius, an den wir uns gewöhnt haben. Das ist, wenn man so will, unser Möglichkeitsraum, den uns das Automobil aufgeschlossen hat. Für diesen Horizont halten wir mit großem Aufwand Ressourcen vor, die wir nur in den seltensten Fällen brauchen. Irre? Auf jeden Fall, denke ich mir vor allem immer dann, wenn ich das Auto auf dem Parkplatz still vor sich hin altern sehe.

Eine sofortige und dabei weitreichende Mobilitäts-Möglichkeit ist so tief in unserem Selbstverständnis verdrahtet, dass momentan die E-Mobilität alle Anstrengungen unternimmt, unsere seltsame Erwartungshaltung zu bestätigen, anstatt, was so dringend nötig wäre, sie nachhaltig zu verändern und unser Verhältnis zu Mobilität fundamental neu zu denken. Das ist kein allzu großes Wunder, war (und ist) doch die automobile Kernwährung eine blechgewordene Verheißung von Unabhängigkeit und Freiheit. Jede Fahrradtour, jeden Kindergeburtstag und jeden Wocheneinkauf planen wir sorgfältiger und sicher auch klüger als unsere mobilen Abenteuer.

Für mich gilt das auf jeden Fall. Die Tanknadel klebt längst am linken Rand. 10 Kilometer noch, sagt die Restkilometeranzeige kurz vor dem Ziel, da bremst mich ein Schild aus: Umleitung. Verdammt, jetzt geht es noch einmal richtig bergauf, ich kenne die Gegend ja, und plötzlich ist alle Erfahrung wertlos. Wie wundervoll wirksam ist doch akute Ressourcenknappheit: gleichmäßigstes Fahren, kein unnötiges Bremsen, plötzlich bin ich bin der Musterschüler eines jeden Effizienztrainings. Die einzige Dorftankstelle auf der Route bleibt auch meine einzige Hoffnung. Ich habe mehr Angstschweiß auf der Stirn als Sprit im Tank, aber irgendwie rolle ich schließlich doch noch auf den Hof.

Na logisch: alles dunkel um diese Zeit.

Die absolute Notwendigkeit einer Benzinuhr war lange keineswegs Konsens. Weder die frühen Käfer noch der Trabant hatten eine Tankanzeige – und irgendwie ging das auch, mit Messstab wie beim Motoröl oder umschaltbarem Reservetank. Motorradfahrer sind noch heute mit der Situation vertraut. Und wissen: Freiheit ist zunächst keine Frage der Instrumentenanzeige, sondern findet im Kopf statt. Es ist ein anderes Denken. Ein anderes Bewusstsein. Ein anderes Planen.

Ich träume von einer Mobilität ohne Benzinuhr. Das internationale Symbol für die Zapfsäule wird ohnehin allmählich aus unserem kollektiven Bewusstsein verschwinden. Es wird sich ausschleichen. Kein schmerzvoller Abschied.

Ich hoffe darauf, dass aus der Tankuhr doch noch ein Fortschrittsbalken wird. Oder ein Modul, das mir Möglichkeiten vorschlägt, auf die ich selbst nie gekommen wäre. Oder eine Stimme, die am besten stumm bleibt. Und mir durch ihr Schweigen die Sicherheit gibt: Ich muss keine Gedanken verschwenden, ich komme gewiss ans Ziel. An dem Tag, an dem wir gelassen auf jede Tankanzeige verzichten können, sind wir bereit, Mobilität wirklich nachhaltig neu zu denken und zu gestalten.

PS Als ich noch suchend um den toten Tankautomat schlich, gingen im Haus gegenüber Lichter an, und ein überaus freundlicher Mann kam mit einem Schlüssel durch den Regen zu mir. Und schon für diese liebenswürdige nächtliche Begegnung hat sich das Abenteuer gelohnt.

Clemens M Prokop

geboren in Regensburg.

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