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Impulse aus dem
Baum­haus

Das Mass aller Dinge

08. Mai 2024
Clemens M Prokop

Monströs… geschmacklos… trivial: Vor 200 Jahren wurde Beethovens Neunte uraufgeführt. Und so ganz unrecht hatten die Spötter und Zweifler vielleicht doch nicht. Für mich ist es immer wieder schön, im hoch geschätzten forum über die gesellschaftliche Relevanz von Musik nachzudenken.

Vor 200 Jahren wurde Beethovens monumentale 9. Symphony zum ersten Mal aufgeführt, und seitdem ist sie das Mass aller Dinge. Als Anfang der 1980-er Jahre die CD auf den Markt kommen sollte, um die Schallplatte zu verdrängen, stellte sich die Frage, wie gross die Scheibe überhaupt werden sollte. Gross genug jedenfalls für Beethovens Neunte – darin haben alle Marketing-Legenden ihren wahren Kern: Der Star-Dirigent Wilhelm Furtwängler hatte 1951 in Bayreuth mit 74 Minuten die Messlatte gesetzt. Und die übersetzen sich in einen CD-Durchmesser von 12 Zentimetern. Passt in jede Tasche.

Damit war ein Werk endlich wieder eingefangen, mit dem Ludwig van Beethoven 1824 alle Dimensionen gesprengt und eine Klasse für sich geschaffen hatte. Allein die zeitliche Ausdehnung: absolut atemberaubend.

Aber sein eigentlicher Geniestreich war, diesen riesigen Anlauf nur deshalb zu nehmen, um im Schluss-Satz Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ eine Bühne zu geben. Ein Leben lang hatte sich Beethoven mit dem Gedanken getragen, diesen vor Pathos glühenden Text Musik werden zu lassen. Und in seiner letzten vollendeten Symphonie fand er einen ganz und gar unerhörten Zugang, indem er Sängersolisten und gemischten Chor zum grossen Orchester holte. Das kannte man so bislang nur aus frommen Kantaten von Bach oder Händel.

Der liturgische Anklang ist natürlich volle Absicht. „O Freunde, nicht diese Töne“, beginnt der säkulare Evangelist: „Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere.“

Was dann kommt, ist in aller Komplexität so genial einfach, dass es jedes Kind mitpfeifen kann und in der zweiten Klavierstunde als Aufgabe nach Hause nimmt. Gleichzeitig steigert sich ein Rausch hin zur (noch nicht gegenderten) ultimativen Utopie, dem Paradies auf Erden: Alle Menschen werden Brüder!

Vielen gilt vor allem deshalb die Neunte als Gipfelpunkt menschlicher Zivilisation und als Goldstandard für eine Musik als wahre Weltsprache der Herzen. Wissenschaftler, etwas nüchterner, sehen in ihr das „Gründungswerk von Weltanschauungsmusik“. Wo Friede, Freiheit und Mitmenschlichkeit feierlich beschworen werden sollen, ist die Neunte meist nicht weit. Die über Jahrhunderte ungestillte Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft, nach Harmonie unter den Menschen – wenigstens in Beethovens Musik findet sie Heimat.

Da ist es kein Wunder, dass die Neunte untrennbar mit der deutschen Nachkriegsgeschichte verknüpft ist. Leonard Bernstein dirigierte die Symphonie zum Fall der Mauer. Es wurde ein legendäres Ereignis, in dem er Schillers Text zu einer „Ode an die Freiheit“ umdeutete. Am Vorabend der Wiedervereinigung, zum letzten Staatsakt der DDR, dirigierte Kurt Masur.

Nicht zufällig folgen staatliche Rituale und Inszenierungen bis heute religiösen Vorbildern. Dazu gehört ganz wesentlich das Wissen um die Macht der Musik. Sie berührt, sie erhebt, sie gibt einer grösseren Idee Gestalt – und schafft im gemeinsamen Zuhören Momente einzigartiger Erfahrungen.

Bis heute unübertroffener Zeremonienmeister solcher quasi-liturgischer Feiern bleibt Herbert von Karajan. Sein Konzert 1968 mit den Berliner Philharmonikern ist Sternstunde und heisser Youtube-Tipp: Wie ein Schlafwandler dirigiert er, bis zum Finalsatz mit geschlossenen Augen, er scheint diese Musik nur zu träumen, und wie in einem unheimlichen Zauberkunststück geschieht alles ohne auch nur die geringste Mühe. Es ist pure Magie und Musik aus einer anderen Welt.

Oder, wie Richard Wagner mit gewohnt grosser Geste und durchaus im Sinn der eigenen Agenda behauptete, das „menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft“.

Und dann kommt Alex. In all diese romantisch-religiöse Überhöhung hinein erzählt Stanley Kubrick in seinen Film „Clockwork Orange“ die Geschichte des fanatischen Beethoven-Fans Alex. Der brutale Anführer einer Jugendband feiert gewissenlose Gewaltexzesse, vergewaltigt und mordet. Beethovens Musik macht was mit ihm – sie macht ihn nur nicht zu einem besseren Menschen.

Wie kein anderer Regisseur hat Stanley Kubrick in seinen Filmen immer wieder ikonische Verbindungen mit klassischer Musik geschaffen. In „Clockwork Orange“ bleibt es nicht beim Soundtrack, der den Bildern eine unerwartete Aura und Atmosphäre gibt. Da bricht Beethoven ständig und in hundert Anspielungen auf die Handlungsebene, bis hin zur Türklingel. Und Kubrick zelebriert provozierende Musikvideos zu Beethovens Musik. Er zwingt zusammen, was nicht zusammenpassen darf. Und zeigt damit doch nur, dass man mit Musik alles machen kann.

„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder“, irrt der Volksmund: „Böse Menschen haben keine Lieder.“ Schön wär’s! Zu Adolf Hitlers Geburtstag 1942 führte Furtwängler mit den Berliner Philharmonikern die Neunte auf. Und auch Josef Stalin erkannte das demagogische Potenzial der „Ode an die Freude“. Sie sei die „richtige Musik für die Massen“ und könne nicht oft genug aufgeführt werden. Sein Wunsch war natürlich Befehl.

Die Geschichte von Beethovens Neunter ist gerade im 20. Jahrhundert eine beispiellose Geschichte der Vereinnahmung. Und gerade im zerstörten, besiegten und schuldverstrickten Deutschland verknüpft sich mit der Symphonie auch eine Sehnsucht nach dem Guten in der deutschen Seele: Immerhin Schiller und Beethoven blieben als Säulenheilige deutscher Kultur. Die „Ode an die Freude“ wurde erst zur Interims-Hymne im Westen Deutschlands und bewährte sich als musikalische Brücke, wenn gesamtdeutsche Mannschaften bei Olympia antraten.

Von „Mr. Bean“ Rowan Atkinson gibt es eine sehr lustige Nummer, die ihn beim festlichen Versuch zeigt, die „Ode an die Freude“ als Hymne zu singen. Das geht eine Strophe lang gut, dann merkt er, dass seine Noten unvollständig sind, da hilft auch kein Schütteln, sondern nur der Mut zur Improvisation: Und er kauderwelscht auf die Schnelle alles raus, was ihm an deutschen Begriffen in den Sinn kommt. Es ist, wenn man so will, ein sehr britischer Blick auf deutsche Leitkultur.

Es hat schon seinen Grund, dass sich die Europäische Union als Hymne eine Instrumentalversion schreiben liess, um „die Einheit in der Vielfalt“ zu feiern. Ein frommer Wunsch!

„Wir sollten Beethoven nicht aufführen, ausser wir meinen es wirklich ernst“, mahnte der Regisseur Peter Sellars in einer flammenden Rede.

Genau genommen muss das für alles gelten, was uns heilig ist.

Meine ganz persönlichen Hörtipps:

 

Clemens M Prokop

geboren in Regensburg.

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